Blätter auf dem Boden. Ein kleiner Grabstein umringt von Moos.

Das Gleichnis des Lebens

Auch bekannt als das Gleichnis, das selbst die Götter überzeugte. Niemand weiß, ob es nur dafür ins Leben gerufen wurde oder um ein anderes Licht auf die Geschehnisse am Beginn der Zeit zu werfen.

Der Geist der Zeit existierte von Anbeginn. Doch er war nicht allmächtig. Er verlieh den Dingen lediglich Zeit. Wenn er eine Blume pflückte, verwelkten ihre Blüten augenblicklich. Streichelte er über einen Baum, verdorrte dieser. Einmal tanzte ein Schmetterling über seinem Schopf. Kaum hatte sich dieser auf den Kopf des Geistes niedergelassen, fiel er leblos zu Boden. Drum war es kein Wunder, dass der Geist von allen Zwerglingen und Tieren gefürchtet wurde. Kaum erblickten sie ihn, wurde er hinfort gejagt oder man floh Hals über Kopf. So streifte er unentwegt einsam durchs Land und fragte sich nach dem Sinn seiner Existenz, bis man ihn ganz vergessen hatte.

Eines Tages vernahm der Geist eine Stimme: „Wenn mir doch nur jemand helfen könnte.“
Er lugte hinter einem Zaun hervor und entdeckte eine kleine Hütte. Ein Heiler saß neben einem Bett und meinte: „Ich weiß auch nicht mehr weiter. Ich hab mein Bestes getan.“
Darauf sagte eine kränkliche Stimme: „Aber so geht es nicht weiter. Ich kann nicht auf ewig diese Qualen erleiden. Wo sind nur die Götter, wenn man sie braucht?“
„Vielleicht erbarmt sich Zion doch noch und heilt dich mit ihrer Magie. Oder Elfrik lässt uns seinen besonderen Wein zukommen, um die Schmerzen besser zu betäuben.“
„Bis jetzt hat mich niemand erhört. Ich will nur noch, dass es endet“, klagte der Kranke.
„Sollte tatsächlich jemand seine Hilfe benötigen?“, fragte sich der Geist. Selbstbewusst betrat er die Hütte.
„Zur Seite, Heiler! Ich bin genau der, den ihr sucht.“
Seine bleiche Erscheinung und sein forsches Auftreten ließen die zwei Zwerglinge kurz aufschrecken.
„Bist du… bist du ein Helfer der Götter?“, fragte der Heiler vorsichtig. Der Kranke hatte sich schnell wieder im Griff und sagte: „Wenn nicht, kannst du gleich wieder verschwinden. Bisher konnte mir niemand helfen.“
Da antwortete der Geist: „Ich kann dein Leiden beenden und dir ewigen Schlaf schenken.“
Während er dies sprach, berührte er den Efeu an der Hauswand und ließ ihn umgehend zu Staub zerfallen.
„So hat mich Zion doch erhört“, sagte der Kranke erfreut.
„Ich wurde von niemandem geschickt. Ich bin mein eigener Herr“, antwortete der Geist.
„Ohhh. Wenn das wirklich wahr ist, dann bitte. Bitte nimm meine Hand.“
Der Kranke streckte ihm erwartungsvoll die Hand entgegen. Der Geist schlug, ohne zu zögern, ein. Schlagartig fiel der Arm des Kranken auf die Decke. Seine Augen wurden leer und seine Atmung stoppte. Der Heiler machte große Augen und fiel auf die Knie.
„Bei den Göttern… oh du. Du hast vermocht, wozu niemand im Stande war; nicht einmal die Götter selbst. Wie soll ich dich preisen? Wie ist dein Name?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin noch auf der Suche“, antwortete der Geist.

Es dauerte nicht lange, da traf der Geist auf zwei weitere gequälte Seelen. Ein magerer Bär und ein dürrer Hase krümmten sich vor Schmerzen unter einem kargen Baum.
„Oh könnte uns doch nur jemand von unseren Qualen erlösen“, jammerte der Bär und hielt sich den Bauch.
„Ich verstehe einfach nicht, warum Sibella uns im Winter derart peinigt? Ich kann auch nicht mehr“, meinte der Hase. Der Geist trat an die beiden heran und fragte: „Was fehlt euch denn? Vielleicht kann ich helfen?“
„Wenn dich Sibella geschickt hat, dann sicherlich. Hast du nahrhafte Früchte dabei?“, fragte der Bär.
„Ich wurde von niemandem geschickt. Ich bin mein eigener Herr“, antwortete der Geist.
„Dann sind wir verloren. Siehst du nicht, dass wir gerade verhungern?“, jammerte der Hase.
„Ich könnte eure Leiden endgültig beenden“, widersprach der Geist. Der Bär musterte den Geist genauer und fragte: „Oh oh, bist du etwa dieser Geist, der Zwerglingen das Leben nehmen kann?“
„Wenn du das wirklich kannst, nur zu. So will ich nicht mehr leben“, klagte der Hase.
„Da hast du recht, Hase“, stimmte der Bär zu und bat den Geist: „Bitte lieber Geist, erlös uns von unserer Qual.“
„Euch beide? Das könnte ich wohl. Ich habe aber eine bessere Idee“, meinte der Geist. Er hob seine Hand und schritt auf die beiden zu. Dann tippte er kurz an die Stirn des Hasen. Augenblicklich fielen dessen Augen zu. Der Geist wandte sich darauf dem Bären zu und sagte: „Und nun mein guter Bär, iss und nähre dich. Denn Leben ist kostbar.“
„Guter Geist, wie soll ich dich preisen, wie ist dein Name?“, fragte der Bär.
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin noch auf der Suche“, antwortete der Geist.

Die Taten des hilfreichen Geistes sprachen sich schnell herum; so auch bei den Tieren des Waldes. Als sie davon erfuhren, schöpften sie neue Hoffnung. Möglicherweise könnte er ihr Dilemma lösen. Und so wurde das erste Mal direkt nach dem Geist gerufen. Vögel schwärmten aus und fragten jedes Tier und jeden Zwergling, ob sie ihn gesehen hatten.
Nach wenigen Tagen traf der Geist auf eine Schwalbe, die ihn direkt um Hilfe bat. Er war über das Vertrauen der Tiere so erfreut, dass er der Schwalbe sogleich zusagte. Daraufhin folgte er ihr über Stock und Stein – an einer weiten Weide entlang – bis zu einem kleinen blühenden Hain. Unter den Baumkronen säumten Rehe, Wildschweine, Hasen, Bären und viele andere Tiere das Gras. Ein Hirsch mit prächtigem Geweih trat hervor und sprach: „Oh gutmütiger Geist. Wir haben deine Hilfe erbeten, da wir uns nicht mehr zu helfen wissen. Die Weiden und Wälder werden immer lichter. Man findet kaum noch Beeren oder Früchte. Immer häufiger werden unsere Bauten und Unterschlüpfe zerstört oder wir sind gezwungen, sie zu verlassen. Die Zwerglinge breiten sich indes ungezügelt weiter aus.“
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Wir können unsere Kinder kaum noch versorgen und uns selbst erst recht nicht mehr. Kannst du uns nicht helfen? Du vermagst doch Zwerglingen das Leben zu nehmen? Wir würden auch alles tun, was du im Gegenzug verlangst.“
Der Geist überlegte kurz und sagte dann: „Mhm, das ist aber eine vermessene Bitte. Sollte ich mir nicht vorher anhören, was die Zwerglinge dazu zu sagen haben?“
„Wie du magst, aber sie werden dich sicher belügen. Das ist in ihrer Natur. Sie halten sich für Sibellas Kinder und alles andere ist für sie nichts Wert“, antwortete der stattliche Hirsch. Die Tiere des Waldes stimmten darauf ein:
„Genau, das sind alles Lügner“, meinte die Schlange.
„Bösartige Nesträuber“, schimpfte der Uhu.
„Und ungehobelte Schläger“, meinte das Schwein.
„Wir werden sehen“, sagte der Geist und verabschiedete sich.

Ohne Umschweife begab sich der Geist zur Hauptstadt der Zwerglinge und bat um eine Audienz beim König. Auch hier hatte man bereits von ihm gehört. Drum gewährte man ihm seine Bitte und führte ihn direkt zum Palast des Königs. In einem eindrucksvollen Thronsaal wurde der Ankömmling vom König höchstpersönlich empfangen. Ohne Kniefall oder königliche Begrüßung trug der Geist sogleich die Anschuldigungen der Tiere vor. Der König antwortete darauf mit ruhiger Stimme: „Wir wissen uns auch keinen Rat mehr. Die Ernten fallen von Jahr zu Jahr schlechter aus. Das Feuerholz wird jeden Winter knapper. Und Tiere berauben uns immer häufiger unserer Vorräte. Unsere Kinder müssen jeden Winter hungern. Es ist eine Qual.“
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er energischer fort: „Wir müssen neue Ländereien ergründen. Wir haben gar keine andere Wahl. Wenn du uns dafür verachtest, bist du genauso heuchlerisch wie die Tiere. Sie halten sich für Sibellas höchste Schöpfung, weil sie zuerst in diese Welt kamen.“
„Euch ist also bewusst, was ihr tut?“, fragte der Geist rhetorisch.
Der König antwortete nicht.
„Das ist wahrlich ein Dilemma“, fügte der Geist hinzu. „Aber was wenn… würdet Ihr wirklich alles für eure Kinder tun?“
Der König lehnte sich vor und antwortete: „Natürlich würden wir das!“
„Gut“, sagte der Geist. Im nächsten Moment sprang er zum Thron und tippte dem König an die Stirn. Geräuschlos sank dieser in seinen samtenen Sitz zurück.
„Er hat dem König das Leben gestohlen!“, schrie eine der Wachen von der Seite und stürmte auf den Geist zu. Dieser hob vorsorglich seine Hand. Unbeeindruckt versuchte ihn die Wache mit ihrer Hellebarde niederzustrecken. Doch sobald die Klinge die Hand des Geistes berührte, zerstieb das Metall zu rötlichem Staub. Jetzt erst wurde den Wachen bewusst, wem sie da gegenüberstanden. Angsterfüllt ließen sie ihre Waffen fallen und flüchteten kopflos davon.

Danach suchte der Geist jeden älteren Zwergling heim und nahm ihm das Leben. Anschließend kehrte er zum Hain der Tiere zurück.
„Du hast es also getan?“, fragte der prächtige Hirsch.
„Die Zwerglinge werden euch keine Probleme mehr bereiten“, antwortete der Geist. Die Tiere jubelten.
„Du bist wahrlich…“, begann der Hirsch, wurde aber sofort vom Geist unterbrochen: „Damit ist es aber nicht getan. Ihr meintet schließlich, ihr würdet alles im Gegenzug tun?“
„Natürlich, oh mächtiger Geist“, sagte der Hirsch.
„Dann legt euch darnieder. Ihr werdet die nächsten sein.“
„Aber… aber so war das nicht ausgehandelt“, schnaubte der Hirsch und scharrte mit den Hufen.
„Wolltet ihr nicht alles tun?“, fragte der Geist.
„Aber die Zwerglinge sind doch…“
„Oh nein, kleiner Hirsch. Nicht die Zwerglinge sind Schuld, sondern das Leben selbst. Das endlose Leben ist das Übel dieser Welt. Es breitet sich unkontrolliert aus und vermaledeit alles, was es berührt, sogar sich selbst. Wenn du das Leben wirklich schützen willst, braucht es ein Ende.“
Da verstand der Hirsch, welchen Handel er eingegangen war. Er kniete sich nieder und sagte: „Wie sollen wir dich preisen, wie ist dein Name?“
„Das kann ich dir sagen. Denn meine Suche endet hier…“, antwortete der Geist. Denn endlich hatte er seine Bestimmung gefunden; als Gott des Todes.

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