Der Gott des Todes und der Mönch

Eines traurigen Tages war der Meister des Tempels friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Als die Mönche dies bemerkten, wuselten sie alle herbei und gaben ihm die letzte Ehre. Man klagte, betete und schmückte seinen Leib mit getrockneten Blütenblättern. Einer der Mönche konnte sein Tränen nicht mehr zurückhalten und fiel vor dem Meister auf die Knie. Plötzlich erschien Katox – der Gott des Todes – vor ihnen. Erschrocken wichen die Mönche zurück, bis auf den einen, der gerade am Boden kniete. Dieser schaute den Gott etwas ungläubig an. Ohne Umschweife ergriff Katox das Wort: „Oho, du bist wohl einer von der mutigen Sorte?“
Er musterte den Mönch kurz. Dann fuhr er fort: „Ich kann euch sicher behilflich sein. Wollt ihr nicht, dass ich euren Meister wieder zurück ins Leben bringe?“
Da stand der Mönch mutig auf und antwortete: „Oh großer Katox, führe uns nicht in Versuchung. Seine Zeit war wohl gekommen und uns steht es nicht zu, so etwas zu verlangen.“
Katox entgegnete: „Aber vielleicht kann ich ob des Verlustes etwas Gutes tun. Wie wäre es mit einer Wagenladung Gold als Ausgleich?“
„Unser Meister hat uns stets Bescheidenheit gelehrt. Wir haben hier alles, was wir brauchen“, erwiderte der Mönch.
„Ihr könntet damit sicher viel bewirken. Wenn schon nicht für euch. So gebt es doch den Armen“, versuchte ihn Katox zu überzeugen.
„Das klingt sehr reizvoll. Aber solch göttliche Eingriffe, kommen doch nie ohne Preis. Ich kenne all deine Geschichten, oh Katox.“
„Das ist wahr. Vielleicht… muss es sich nur richtig lohnen“, meinte Katox und offerierte: „Wie wäre es mit der Macht, Kriege zu verhindern oder die selbstsüchtigen Könige zu stürzen? Selbst wenn du dafür am Ende deine Seele geben müsstest, würdest du es doch tun, oder nicht?“
Der Mönch entgegnete: „Das klingt wahrlich verlockend. Doch es widerspricht dem natürlichen Lauf der Dinge. Alles braucht seine Zeit. Das ist der einzig wahre Weg.“
Katox begann zu lächeln, was meist kein gutes Zeichen war und sagte: „Ich sehe, du bist ein wahrer Gläubiger. Drum erhältst du etwas von mir, ohne dass du im Stande sein wirst, es abzulehnen.“
Das erste Mal blitzte Angst in den Augen des mutigen Mönches auf. Die anderen Mönche schreckten weiter zurück und versuchten sich hinter der spärlichen Einrichtung zu verstecken. Katox zeigte mit seinem Finger auf den Mönch und sagte: „Hiermit ernenne ich dich zum neuen Meister des Tempels. Mögest du ihn weise führen, bis dein letzter Tag auf Erden gekommen ist.“

Eine warme Mahlzeit

In einem schmalen Tal nahe des heiligen Berges führte einst ein Reiskoch ein kleines Gasthaus. Eines Tages betrat ein alter Mann mit zerzaustem Bart die warme Stube. Er war wohl schon weit gereist, denn seine Robe war dreckig von Schlamm und hier und da leicht eingerissen. Der Alte ließ sich in einen Stuhl fallen.
„Ich bin am verhungern“, keuchte er.
„Oh ein neuer Gast“, sagte der Koch erfreut.
Darauf meinte der Sohn des Kochs: „Eher ein Schnorrer.“
Er beäugte den Alten argwöhnisch und fragte: „Kannst du überhaupt bezahlen?“
„Ich bin ein armer Pilger. Leider kann ich nichts weiter, als ein Gebet offerieren“, antwortete der Alte.
„Davon können wir schlecht leb…“, begann der Sohn, wurde jedoch sogleich von seinem Vater unterbrochen: „Das ist mehr als ausreichend. Wie wäre es mit einer Reispfanne?“
„Sehr gerne. Ich möchte nicht wählerisch erscheinen“, antwortete der Pilger. Der Koch schnappte sich seinen Sohn und zog ihn mit sich in die Küche. Währenddessen flüsterte er ihm harsch zu: „Du weißt doch, der Gast ist stets König.“
In wenigen Minuten hatte der Koch ein leckere Reispfanne angerichtet. Er reichte dem Pilger die Schüssel und sagte: „Hier, das ist genau das, was du jetzt brauchst. Das gibt dir genügend Kraft für den weiteren Weg.“
Der Pilger bedankte sich. Dann faltete er seine Hände und schloss beide in sein Gebet ein. Erst danach begann er seine Mahlzeit. Als er die Schüssel geleert hatte, bedankte er sich erneut. Da meinte der Vater: „Wir haben zu danken. Es ist immer gut, wenn das Haus unter einem guten Stern steht.“

Einige Wochen später an einem regnerischen Tag bekamen sie von einem ganz besonderen Gast Besuch. Das Gasthaus war menschenleer, als aus heiterem Himmel der König höchstpersönlich eintrat. Seine glänzenden Gewänder ließen die einfache Einrichtung in einem ganz anderen Licht erstrahlen. Der Sohn des Kochs warf sich sofort auf die Knie und bot dem König den besten Platz an.
„Hoho, ich nehme lieber den hier am Fenster. Vielleicht lässt sich ja ein Eichhörnchen blicken“, antwortete der König.
„Sehr wohl“, sagte der Sohn demütig. Dann sprang er zu seinem Vater und erzählte hektisch, welche prächtigen Speisen sie alle auftischen sollten.
„Hast du den König denn gefragt, was er wünscht?“, wollte sein Vater wissen. Etwas verlegen schüttelte der Sohn den Kopf. Flugs ging er zurück und holte das Versäumnis nach, schien darüber aber nicht erfreut zu sein.
„Das geht nicht. Das können wir nicht machen“, sagte er zu seinem Vater.
„Warum denn? Verlangt er Zutaten, die wir nicht besitzen?“, fragte sein Vater.
„Nein, viel schlimmer. Er will nur das einfachste Gericht haben. Das kann nicht sein. Das ist sicher ein Test.“
Daraufhin sagte sein Vater: „Du weißt aber, was ich dir jeden Tag sage?“
Sein Sohn rollte mit den Augen, sagte aber nichts.
„Der Gast ist stets König“, sagte sein Vater. „Also tun wir auch genau das, was er wünscht, egal wer er ist.“
Wenige Minuten später kam der Koch an den Tisch des Königs und reichte ihm eine Schüssel.
„Hier, mein König. Genau wie Sie es sich gewünscht haben.“
„Vielen Dank. Darauf habe ich schon lange gewartet.“
Während der König sein Mahl zu sich nahm, standen Vater und Sohn am Rand und hofften, dass es ihm mundete.
Als der König das letzte Reiskorn verzehrt hatte, legte er seine Stäbchen beiseite und sagte: „Ich bin wirklich erstaunt. Es hat ebenso vorzüglich gemundet wie beim letzten Mal. Jemand der so etwas aus einem einfachen Gericht zaubern kann, muss wahrlich ein Meisterkoch sein.“
„Wie beim letzten Mal?“, fragte der Koch verwundert.
„Oh ja. Damals konnte ich nicht in Münzen zahlen. Deshalb sollt ihr diesmal umso mehr entlohnt werden. Mir würden mehr Menschen wie du in meiner Nähe guttun. Wieso wirst du nicht mein neuer Meisterkoch am Hof? Da wird es dir an nichts fehlen.“
Der Koch und sein Sohn waren völlig überwältigt und wussten zunächst nicht, was sie sagen sollten. Der König schaute sie voller Vorfreude an und ließ ihnen die Zeit, sich wieder zu sammeln. Dann verbeugte sich der Koch und sagte ruhig: „Es ist mir eine große Ehre, mein König. Das möchte ich wirklich betonen. Aber ich muss leider ablehnen.“
Der König riss erstaunt die Augen auf. Der Koch fuhr fort: „Eigentlich bin ich sehr zufrieden, wie alles ist. Wer würde hier sonst die ganzen hungrigen Pilger versorgen? Und jetzt wo uns der König höchstpersönlich beehrt hat, werden wir sicher noch mehr Gäste erwarten.“
Da antwortete der König ebenso ruhig: „Du bist wahrlich ein weiser Mann, aber…“
Der König sprang von seinem Stuhl auf und sagte forsch: „Dann möchte ich wenigstens ein Mal die Woche vorbeikommen und deine Kochkunst genießen.“
Bevor der Koch antworten konnte, fügte der König hinzu: „Keine Angst, ich werde nicht als König auftreten. Ihr werdet mich nicht einmal erkennen. Ich weiß ja, hier ist jeder Gast stets König.“
Ein breites Grinsen huschte über das Gesicht des Königs. Daraufhin schaute er eindringlich in die Runde und sagte: „Das bleibt aber unser Geheimnis.“
Der Koch und sein Sohn sowie die Diener des Königs nickten.

Ein einziges Mal

In einem kleinen unbedeutenden Dorf lebte einst ein Reisbauer. Er besuchte regelmäßig den Tempel und spendete, was ihm möglich war. Er versuchte sich auch stets an die Ratschläge der Mönche zu halten, wenngleich er nicht fehlerlos war.
Als er sich gerade mit einem Freund über den rechten Pfad unterhielt, kam ein Mönch dazu und sagte: „Du meinst also, lediglich weil es heißt, man solle dieses und jenes vermeiden, sei es nicht schlimm, wenn man mal vom Weg abkommt? Da muss ich dich enttäuschen. Natürlich ist niemand perfekt, aber wir sollten dennoch stets versuchen auf dem rechten Weg zu bleiben. Wenn wir davon abkommen, können uns andere dunkle Pfade plötzlich sehr verführerisch erscheinen. Eine einzige falsche Tat kann dich schneller in die Dunkelheit führen, als du ahnst, mein Freund.“
Der Reisbauer zweifelte an den Worten des Mönches.
„Ein kleiner Ausrutscher würde einen schließlich nicht gleich zum Mörder machen“, dachte er sich.

Dieses Jahr war die Reisernte besonders prächtig ausgefallen. Aus diesem Anlass hatte der Reisbauer all seine Freunde in die hiesige Schänke eingeladen. Hier feierte man ausgelassen und stieß mit reichlich Reisbier an.
„Ein kühles Bier genehmige ich mir noch“, sagte der Bauer kühn.
„Hast du nicht schon genug gehabt?“, meinte einer seiner Freunde. Er ließ sich davon jedoch nicht abbringen. Er tat es mit einem „Nur das eine Mal“ ab.
Mit steigendem Mond nahm die Feier langsam ihr Ende und immer mehr Gäste begannen sich zu verabschieden. Dem Bauer war aber noch lange nicht danach. Er wollte weiterfeiern. Er sprang auf und plärrte: „Barde spiel weiter! Ich will tanzen bis zum Morgen.“
Kurzerhand schnappte er sich eine junge Maid und versuchte sie zum Tanzen zu animieren. Ihr war das aber alles andere als recht und stieß ihn von sich. Sichtlich gekränkt lief er an ihr vorbei und klatschte ihr mit der Hand auf den Po. Es folgte eine Ohrfeige und großes Getuschel. Daraufhin kam die Feier endgültig zum Erliegen und binnen kürzester Zeit leerte sich die Schänke. Während sich der Bauer noch die Wange hielt, überredete ihn sein Freund ebenfalls nach Hause zu gehen.

Als sie gerade eine Farm passierten, sagte der Reisbauer plötzlich zu seinem Freund: „Weißt du was? Ich hol mir noch schnell was zu essen. Mein Magen knurrt furchtbar.“
Eine Weile später erschien er wieder aus der Dunkelheit mit einem Huhn in der Hand.
„Woher hast du das?“, wollte sein Freund wissen.
„Von nebenan“, antwortete er trocken.
„Du weißt doch, dass man nichts nehmen soll, was einem nicht gegeben wird.“
„Ist doch bloß ein kleines Hühnchen. Da waren so viele in der Scheune. Das fällt gar nicht auf. Ist ja nur das eine Mal“, versuchte sich der Bauer herauszureden.
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte sein Freund.
„Na wir machen hier ein kleines Feuerchen und bereiten uns einen Festschmaus vor.“
Der Reisbauer holte ein Messer hervor und schnitt kurzerhand die Kehle des Vogels durch. Das Bier in seinen Adern hinderte ihn jedoch daran, einen sauberen Schnitt zu ziehen, weshalb das arme Tier nicht sofort starb.
„Jetzt brichst du auch noch das oberste aller Prinzipien! Damit will ich nichts zu tun haben!“, empörte sich sein Freund und ging alleine weiter.
Der Reisbauer ließ ihn ziehen und legte das Huhn beiseite. Dann versuchte er ein Feuer zu entzünden.
„Ich weiß gar nicht, was die alle haben. Zuerst diese arrogante Ziege und dann spielt der sich noch wie ein Prediger vom Tempel auf. Ist doch nur das eine Mal.“
Während er weiter vor sich hin murmelte, merkte er nicht, wie das sterbende Tier seine Chance zur Flucht erkannte und panisch davonrannte. Zu allem Überfluss entfaltete das Bier endgültig seine volle Wirkung und ließ ihn in einen tiefen Schlaf fallen.

Als er von der Mittagssonne wachgekitzelt wurde, fand er sich in einer makaberen Szene wieder. Er lag inmitten einer Blutlache; auf der einen Seite ein Bierkrug, auf der anderen ein blutverschmiertes Messer. Von dort ausgehend erstreckte sich ein blutiger Pfad mehrere dutzend Meter lang bis hin zum nahegelegenen See.

Auch wenn der Reisbauer sich sogleich bei dem betroffenen Farmer entschuldigte, war der Spott doch groß. Die Geschichte machte schnell die Runde und bald war er in der ganzen Gegend als „Hühnerschreck“ bekannt. Und immer wenn ihn jemand so nannte, erwiderte er: „Das war doch nur das eine Mal.“

Der Mönch und der Dieb

Inspiriert von den zwei buddhistischen Geschichten:
The Abusive Brothers“ aus „Dhammapada Stories“ von Gambhiro Bikkhu
You Cannot Dirty the Sky“ aus „Buddhism Key Stage 2“ von Jing Yin W. Y. Ho

Es war einmal ein alter Mönch. Jeden Tag ging er in ein nahegelegenes Dorf, um für den Tempel Almosen zu sammeln. An einem sonnigen Morgen kam er an einem Taugenichts vorbei. Als dieser den Mönch erblickte, schimpfte dieser sogleich: „Was bettelst du hier? Siehst du nicht, dass es uns schon schlecht genug geht. Hier gibt es nichts zu holen und überhaupt…“
Es dauerte eine Weile, bis der Taugenichts der Beleidigungen müde wurde. Die ganze Zeit über hatte der Mönch ruhig und gelassen dagestanden. Erst jetzt ergriff er das Wort: „Wenn du einen Gast zu dir nach Hause einlädst und ihm Speise und Trank anbietest, er diese jedoch nicht annimmt und geht. Wem gehört das Angebotene dann?“
Damit hatte der Taugenichts nicht gerechnet. Völlig irritiert schaute er den Alten an und antwortete wie aus einem Reflex: „Mir?“
„So ist es“, sagte der Mönch und führte seine Runde fort.

Auf seinem Weg begegnete der Mönch ebenfalls dem Freund des Taugenichts‘. Der Mönch sah ihm sofort an, dass er mit Dieben gemeinsame Sache machte. Dennoch fragte er ihn, ob er für den Tempel spenden wolle.
„Was fragst du mich, Lumpenträger? Soll ich dir die Kehle durchschneiden?“, antwortete der Dieb erbost.
„Jeder hat stets die Chance Gutes zu tun, egal wie finster seine Vergangenheit ist“, sagte der Mönch gelassen.
„Ich hasse es, mich zu wiederholen, Taube Nuss. Wenn du nicht gleich verschwindest… hey, warte mal. Du sammelst doch Geld. Gib’s her oder sterb.“
„Du bist kein Mörder, nicht wahr? Das kann ich sehen.“
Das war der Dieb wahrlich nicht. Dafür hatte er nicht den Mut. Doch dies hinderte ihn nicht daran, auf den Mönch einzuschlagen und ihm den Almosenbeutel aus den Händen zu reißen. Während sich der Mönch wieder aufrappelte, rief er dem flüchtenden Dieb hinterher: „Das wird dir viel mehr Schmerzen bereiten als mir. Kehr um, solange du noch kannst!“
Der Dieb ignorierte die Worte des Mönches und rannte davon. Der Lärm der Auseinandersetzung hatte die Leute des Dorfes jedoch bereits alarmiert. Diejenigen, die Zeuge des Überfalls gewesen waren, eilten dem Dieb sogleich hinterher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn eingeholt und umzingelt hatten. Der Dieb zückte ein Messer und versuchte sich den Weg freizukämpfen; doch ohne Erfolg. Als er von einer Mistgabel erwischt wurde, ließ er seine Beute fallen. Die Dorfbewohner wollten ihm gerade den Garaus machen, da drang die Stimme des Mönches zu ihnen: „Haltet ein. So hat doch jeder das Recht auf Leben.“
Auf Geheiß des Mönches knebelten sie den Dieb und brachten ihn zurück zum Dorf. Zudem bestand der Mönch darauf, den Dieb im Tempel zu verarzten. Etwas widerwillig gaben die Dorfbewohner dem ungewöhnlichen Wunsch nach.

Es dauerte einige Tage bis die Wunde vollends geheilt war. Der Dieb verstand nicht, warum der Mönch all dies tat und fragte ihn danach. Darauf antwortete der Mönch: „Siehst du nun ein, dass wenn du andere verletzt, dir selbst viel mehr schadest? Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du womöglich auf qualvolle Weise gestorben. Und selbst wenn nicht. Du kannst mir nicht erzählen, dass dein Gewissen frei von Schuld ist, auch wenn du versuchst sie mit Wut zu überdecken.“
Nach einer kurzen Pause setzte der Mönch erneut an: „Und du glaubst doch nicht, dass du ohne Strafe davonkommst. Du wirst uns helfen den Tempel sauber zu halten. Sagen wir, für drei Monate.“
Der Dieb setzte sich verwundert auf und meinte: „Und was hindert mich daran zu gehen?“
„Du bekommst hier Essen, eine Unterkunft und Beschäftigung. Ist das wirklich so furchtbar? Ich halte dich für klug genug, nicht noch einmal das Risiko einzugehen, auf dem Pfad des abtrünnigen Karmas zu wandeln.“
Mit einem Mal begriff der Dieb, was ihm der Mönch die ganze Zeit versucht hatte, zu sagen. Dann meinte er: „Nur eine Frage hab ich noch. Warum ist dir das so wichtig? Warum hilfst du jemandem wie mir?“
Da antwortete der Mönch: „Ich erwähne es immer wieder gerne. Jeder hat stets die Chance Gutes zu tun, egal wie finster seine Vergangenheit ist.“

Am nächsten Tag begab sich der ehemalige Dieb ins Dorf und erzählte seinem Freund, was passiert war. Schnell hatte er ihn überzeugt, sich ebenfalls dem Tempel anzuschließen.
Nachdem die drei Monate vorüber waren, beschlossen die zwei Freunde weiterhin dem Tempel zu dienen und den Weg des Mönches zu bestreiten. Hier lebten sie fortan zufriedener, als sie es je zuvor in ihrem Leben getan hatten.

Der ungeduldige Schüler

In einem alten, längst vergessenem Kloster lebte einst ein junger Schüler. Seine Auffassungsgabe übertraf die aller anderen. Dies kam ihm jedoch des öfteren in die Quere. Wenn er seine Aufgaben als Erster erledigt hatte, vertrieb er sich meist die Zeit damit, Streiche auszuhecken. Einmal hatte er ein dutzend Fliegen eingefangen und diese unter dem Trinkbecher seines Lehrers versteckt. Als der alte Mönch etwas trinken wollte, hatte sich dieser zunächst sehr erschrocken. Dann hatte er kurz gekichert und gemeint, solche Possen könnte er nicht dulden. Mit der Strafe bewies der alte Mönch seinen ganz eigenen Humor: Als Wiedergutmachung musste der Schüler die Hälfte seiner Mahlzeit mit den gefangenen Fliegen teilen.

Eines Tages in der Kalligraphiestunde trat der alte Mönch an den kleinen Unruhestifter heran. Dieser schien mit seinem Text bereits fertig zu sein und über etwas nachzudenken. Da sagte der Mönch: „Was soll ich nur mit dir machen?“
Der Schüler schaute ihn fragend an. Der Mönch fuhr fort: „Du kannst zwar sehr aufmerksam sein, wenn du willst, aber warum nutzt du deine Zeit nicht richtig? Ich habe das Gefühl, dir fehlt es an Entschlossenheit. Vielleicht solltest du die Grundlagen der Zen-Meditation noch einmal lesen.“
„Aber die habe ich doch schon zweimal gelesen“, beschwerte sich der Schüler sogleich.
„Wohl aber noch nicht verstanden,“ erwiderte der Mönch. Da sprang der ungeduldige Schüler auf: „Dann fragt mich ab. Testet mich doch!“
Zum Erstaunen der anderen antwortete der Mönch: „Nun gut, ich werde dich prüfen. Wenn du erfolgreich bist, darfst du persönlich mit dem Klostermeister sprechen.“
Der Schüler strahlte.
„Komm mit“, sagte der Mönch. Freudig ging der Schüler an seinen Kameraden vorbei und folgte dem Mönch. Draußen auf dem Übungsplatz blieb dieser stehen und machte eine einladende Geste: „Setz dich hier auf dein Zafu und meditiere, bis der Meister kommt. Wenn er dich dabei erwischt, wie du faxen machst, dann wirst du niemals von ihm unterwiesen werden.“
Selbstsicher setzte sich der Schüler auf sein Sitzkissen. Daraufhin ließ ihn der Mönch alleine.

Am Anfang war alles wie gehabt. Schließlich hatte der Schüler schon etwas Übung im Meditieren. Doch es dauerte nicht lange, da hatte er seine übliche Zeit überschritten und seine Beine wurden unruhig. Er änderte die Position, aber kurz darauf wurde es nur schlimmer. Er wechselte die Beine mehrmals, doch es half alles nichts. Er schaute sich kurz um, um sich in Sicherheit wiegen zu können. Dann streckte er seine Beine und entspannte sie für eine Weile, bis er die Meditation fortsetzte. Zum Glück rechtzeitig genug, denn schon kam der Mönch vorbei und fragte: „Und, war der Meister bereits da?“
„Nein noch nicht“, antwortete der Schüler. Der Mönch druckste leise und verschwand wieder.

Bevor sich die Beine des Schülers wieder bemerkbar machen konnten, kam ein anderer Störenfried ins Spiel. Die Sonne folgte ihrer Bahn und vertrieb die kühlenden Schatten vom Platz. Die aufkommende Hitze ließ Schweißperlen über die Stirn des Schülers rinnen. Auch wenn er nicht so leicht aufgeben wollte, musste er dennoch seinem Ärger Luft machen: „Ganz toll. Jetzt bekomme ich auch noch Sonnenbrand und den Alten freut’s.“
Wie gerufen, kam der Mönch vorbei, um nach seinem Schüler zu sehen: „Und, war der Meister bereits da?“
„Nein, immer noch nicht“, klagte der Schüler. Der Mönch verbarg das Gesicht in seiner Kutte und druckste erneut, bevor er wieder verschwand.

Die Sonne sollte nicht der einzige Störenfried bleiben. Von der Wärme angezogen, flogen unzählige Fliegen herbei und ließen sich auf den heißen Steinplatten des Platzes nieder. Immer wieder schwirrten neue heran und zischten am Kopf des Schülers vorbei. Er versuchte sie mit sachten Handbewegungen zu vertreiben, doch es half nicht viel. Bald schon bemerkten die kleinen Unruhestifter, dass der Schüler noch mehr Hitze ausstrahlte. Wie abgesprochen, begannen sie auf ihm zu landen; seinen Beinen, seinen Armen, selbst auf seinem Gesicht. Wütend scheuchte er sie fort.
„Wie soll ich so ruhig bleiben und meditieren? Und wie lange soll ich eigentlich noch warten?“, schimpfte er vor sich hin. So verging einige Zeit, bis die Sonne die Abendruhe einleitete und die Schatten wieder die Überhand gewannen.

Erst im Abendrot ließ sich der alte Mönch wieder blicken. Der junge Schüler wollte schon erleichtert aufstehen, da wurde er gefragt: „Na, war der Meister bereits da?“
„Nein, war er nicht!“, schimpfte der Schüler. Der alte Mönch kicherte.
„Dann musst du wohl noch länger warten.“
Er wandte sich von seinem Schüler ab und wollte wieder gehen. Dieser fühlte sich jedoch ungerecht behandelt und rief ihm hinterer: „Aber meine Beine tun weh und es ist bald Nacht. Ihr könnt doch nicht erwarten, dass ich bei der Kälte draußen bleibe. Was ist das für eine blöde Prüfung?“
„Du gibst also auf?“, fragte der Mönch. Der Schüler sprang auf: „Ja, ihr wollt euch ohnehin nur über mich lustig machen.“
„Keineswegs“, antwortete der Mönch.
„Warum gebt ihr mir dann keine faire Chance?“, fragte der Schüler.
„Das tat ich. Du musst nur noch viel lernen.“
Erbost ging der Schüler an seinem Lehrer vorbei. Dieser fuhr fort: „Deine Augen sind nicht nur zum Sehen da, sondern auch zum Erkennen. Der Meister war bereits zugegen.“
Da hielt der Schüler inne: „Was wollt ihr damit sagen? Hat er sich hinterm Schilf versteckt?“
„Nahe dran. Er war fast von Anfang an da.“
Der Schüler schaute verdutzt. Der Mönch kicherte erneut und setzte wieder an: „Zuerst kam der Meister der Unruhe, dann Meister Sonne und zum Schluss Meister Fliege. Du könntest viel von ihnen lernen, wenn du richtig zusehen und zuhören würdest. Für heute hast du deine Chance verpasst.“
Der Schüler brauchte eine Weile, um die Worte in voller Gänze zu verstehen. Dann warf er sich dem Mönch vor die Füße.
„Ihr habt recht. Es tut mir leid. Ich sollte jede Gelegenheit nutzen, um zu lernen. Ich verspreche, dass ich dies fortan beherzigen werde.“

Jahrzehnte später erkannte der Schüler den Meister in sich selbst und leitete das Kloster mit weiser und gutmütiger Hand.

Der heimliche Beobachter

Angelehnt an die buddhistische Geschichte über Stehlen aus „Buddhism Key Stage One“ von Jing Yin Ken Hudson.

Einst zogen ein Vater und sein Sohn als fahrende Händler durchs Land. Der Winter brach an und die Geschäfte liefen entsprechend schlecht. Niemand konnte es sich in solchen Zeiten leisten teure Ware zu kaufen, auch wenn sie von besonders guter Qualität war. Der Tag kam, an dem sie sich die letzte warme Mahlzeit gönnten und ihr Geldbeutel keine einzige Goldunze mehr aufwies.
Seinen eigenen Hunger würde der Vater verdrängen können, den seines Sohnes jedoch nicht. So sah er sich gezwungen, in die Scheune des nahegelegenen Bauernhofes einzusteigen und Kartoffeln zu stibitzen. Trotz des Hungers beklagte sein Sohn: „Ich dachte immer, wir sollen nichts nehmen, was uns nicht gegeben wird?“
„Es heißt aber auch, wir sollen es nur vermeiden zu stehlen. Nicht dass man es unter keinen Umständen tun soll“, versuchte sich sein Vater zu erklären. „In manchen Situationen muss man die Konsequenzen abwägen und manchmal hat man nur die Wahl zwischen einer bösen und einer sehr bösen Tat.“
Mit diesen Worten sein eigenes Gewissen beruhigt, packte er sich einen Sack voll mit Kartoffeln. Dabei vergaß er, dass manchmal nur ein einziges Mal ausreicht, um sich eine neue Angewohnheit anzueignen. So stahl man auch ein zweites und ein drittes Mal und fand immer wieder einen neuen Grund, wenn der vorangegangene ausgedient hatte. Nach einiger Zeit war ihr Geldbeutel wieder gut gefüllt, doch die Angewohnheit blieb.

Eines Nachts, es war Frühlingsbeginn und der Himmel wolkenklar, da schlichen sich der Vater und sein Sohn auf ein Kartoffelfeld. Der Vater füllte gerade den Jutesack bis oben hin, da flüsterte ihm sein Sohn zu: „Papa, ich glaube, wir werden beobachtet.“
Der Vater zuckte erschrocken zusammen und ließ den Sack fallen. Ein dutzend Kartoffeln kullerten über den Boden. Völlig panisch schaute er sich um, konnte aber niemanden entdecken.
„Da schau“, sagte der Junge und zeigte in den Himmel. „Der Mann im Mond.“
Sein Vater gab ein tiefes, erleichtertes Seufzen von sich. Er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Doch der Gedanke jemand schaue ihm tatsächlich beim Stehlen zu, löste große Scham in ihm aus. Was tat er da eigentlich, fragte er sich. Mit einem Mal erkannte er seine sündige Tat. Ihm wurde augenblicklich klar, dass selbst wenn er unentdeckt stahl, dies keinesfalls ohne Konsequenzen blieb.
Daraufhin besuchte er jeden von ihm einst heimgesuchten Bauernhof und zahlte jede gestohlene Kartoffel zurück. Auf diese Weise hoffte er auch, das durch ihn hervorgerufene Misstrauen wieder gutzumachen.

Seit jenem Frühling hat der Vater nie wieder darüber nachgedacht etwas zu stehlen und wenn man ihn diesbezüglich fragt, antwortet er gerne: „Wir sollten nie vergessen, dass unser Handeln immer beobachtet wird. Selbst wenn der Mann im Mond gerade blinzelt, es gibt immer jemanden, der zuschaut und das sind wir selbst.“