In einem alten, längst vergessenem Kloster lebte einst ein junger Schüler. Seine Auffassungsgabe übertraf die aller anderen. Dies kam ihm jedoch des öfteren in die Quere. Wenn er seine Aufgaben als Erster erledigt hatte, vertrieb er sich meist die Zeit damit, Streiche auszuhecken. Einmal hatte er ein dutzend Fliegen eingefangen und diese unter dem Trinkbecher seines Lehrers versteckt. Als der alte Mönch etwas trinken wollte, hatte sich dieser zunächst sehr erschrocken. Dann hatte er kurz gekichert und gemeint, solche Possen könnte er nicht dulden. Mit der Strafe bewies der alte Mönch seinen ganz eigenen Humor: Als Wiedergutmachung musste der Schüler die Hälfte seiner Mahlzeit mit den gefangenen Fliegen teilen.
Eines Tages in der Kalligraphiestunde trat der alte Mönch an den kleinen Unruhestifter heran. Dieser schien mit seinem Text bereits fertig zu sein und über etwas nachzudenken. Da sagte der Mönch: „Was soll ich nur mit dir machen?“
Der Schüler schaute ihn fragend an. Der Mönch fuhr fort: „Du kannst zwar sehr aufmerksam sein, wenn du willst, aber warum nutzt du deine Zeit nicht richtig? Ich habe das Gefühl, dir fehlt es an Entschlossenheit. Vielleicht solltest du die Grundlagen der Zen-Meditation noch einmal lesen.“
„Aber die habe ich doch schon zweimal gelesen“, beschwerte sich der Schüler sogleich.
„Wohl aber noch nicht verstanden,“ erwiderte der Mönch. Da sprang der ungeduldige Schüler auf: „Dann fragt mich ab. Testet mich doch!“
Zum Erstaunen der anderen antwortete der Mönch: „Nun gut, ich werde dich prüfen. Wenn du erfolgreich bist, darfst du persönlich mit dem Klostermeister sprechen.“
Der Schüler strahlte.
„Komm mit“, sagte der Mönch. Freudig ging der Schüler an seinen Kameraden vorbei und folgte dem Mönch. Draußen auf dem Übungsplatz blieb dieser stehen und machte eine einladende Geste: „Setz dich hier auf dein Zafu und meditiere, bis der Meister kommt. Wenn er dich dabei erwischt, wie du faxen machst, dann wirst du niemals von ihm unterwiesen werden.“
Selbstsicher setzte sich der Schüler auf sein Sitzkissen. Daraufhin ließ ihn der Mönch alleine.
Am Anfang war alles wie gehabt. Schließlich hatte der Schüler schon etwas Übung im Meditieren. Doch es dauerte nicht lange, da hatte er seine übliche Zeit überschritten und seine Beine wurden unruhig. Er änderte die Position, aber kurz darauf wurde es nur schlimmer. Er wechselte die Beine mehrmals, doch es half alles nichts. Er schaute sich kurz um, um sich in Sicherheit wiegen zu können. Dann streckte er seine Beine und entspannte sie für eine Weile, bis er die Meditation fortsetzte. Zum Glück rechtzeitig genug, denn schon kam der Mönch vorbei und fragte: „Und, war der Meister bereits da?“
„Nein noch nicht“, antwortete der Schüler. Der Mönch druckste leise und verschwand wieder.
Bevor sich die Beine des Schülers wieder bemerkbar machen konnten, kam ein anderer Störenfried ins Spiel. Die Sonne folgte ihrer Bahn und vertrieb die kühlenden Schatten vom Platz. Die aufkommende Hitze ließ Schweißperlen über die Stirn des Schülers rinnen. Auch wenn er nicht so leicht aufgeben wollte, musste er dennoch seinem Ärger Luft machen: „Ganz toll. Jetzt bekomme ich auch noch Sonnenbrand und den Alten freut’s.“
Wie gerufen, kam der Mönch vorbei, um nach seinem Schüler zu sehen: „Und, war der Meister bereits da?“
„Nein, immer noch nicht“, klagte der Schüler. Der Mönch verbarg das Gesicht in seiner Kutte und druckste erneut, bevor er wieder verschwand.
Die Sonne sollte nicht der einzige Störenfried bleiben. Von der Wärme angezogen, flogen unzählige Fliegen herbei und ließen sich auf den heißen Steinplatten des Platzes nieder. Immer wieder schwirrten neue heran und zischten am Kopf des Schülers vorbei. Er versuchte sie mit sachten Handbewegungen zu vertreiben, doch es half nicht viel. Bald schon bemerkten die kleinen Unruhestifter, dass der Schüler noch mehr Hitze ausstrahlte. Wie abgesprochen, begannen sie auf ihm zu landen; seinen Beinen, seinen Armen, selbst auf seinem Gesicht. Wütend scheuchte er sie fort.
„Wie soll ich so ruhig bleiben und meditieren? Und wie lange soll ich eigentlich noch warten?“, schimpfte er vor sich hin. So verging einige Zeit, bis die Sonne die Abendruhe einleitete und die Schatten wieder die Überhand gewannen.
Erst im Abendrot ließ sich der alte Mönch wieder blicken. Der junge Schüler wollte schon erleichtert aufstehen, da wurde er gefragt: „Na, war der Meister bereits da?“
„Nein, war er nicht!“, schimpfte der Schüler. Der alte Mönch kicherte.
„Dann musst du wohl noch länger warten.“
Er wandte sich von seinem Schüler ab und wollte wieder gehen. Dieser fühlte sich jedoch ungerecht behandelt und rief ihm hinterer: „Aber meine Beine tun weh und es ist bald Nacht. Ihr könnt doch nicht erwarten, dass ich bei der Kälte draußen bleibe. Was ist das für eine blöde Prüfung?“
„Du gibst also auf?“, fragte der Mönch. Der Schüler sprang auf: „Ja, ihr wollt euch ohnehin nur über mich lustig machen.“
„Keineswegs“, antwortete der Mönch.
„Warum gebt ihr mir dann keine faire Chance?“, fragte der Schüler.
„Das tat ich. Du musst nur noch viel lernen.“
Erbost ging der Schüler an seinem Lehrer vorbei. Dieser fuhr fort: „Deine Augen sind nicht nur zum Sehen da, sondern auch zum Erkennen. Der Meister war bereits zugegen.“
Da hielt der Schüler inne: „Was wollt ihr damit sagen? Hat er sich hinterm Schilf versteckt?“
„Nahe dran. Er war fast von Anfang an da.“
Der Schüler schaute verdutzt. Der Mönch kicherte erneut und setzte wieder an: „Zuerst kam der Meister der Unruhe, dann Meister Sonne und zum Schluss Meister Fliege. Du könntest viel von ihnen lernen, wenn du richtig zusehen und zuhören würdest. Für heute hast du deine Chance verpasst.“
Der Schüler brauchte eine Weile, um die Worte in voller Gänze zu verstehen. Dann warf er sich dem Mönch vor die Füße.
„Ihr habt recht. Es tut mir leid. Ich sollte jede Gelegenheit nutzen, um zu lernen. Ich verspreche, dass ich dies fortan beherzigen werde.“
Jahrzehnte später erkannte der Schüler den Meister in sich selbst und leitete das Kloster mit weiser und gutmütiger Hand.